1998 bis heute
Ich bin am Ende meiner Ausführungen angelangt. Was lässt sich im Rückblick auf 75 Jahre Vereinsgeschichte nun aussagen?
Es lässt sich ein relativ einfaches Fazit ziehen: Die Freuden und Sorgen sind die gleichen geblieben, geändert haben sich nur die Umstände. Gute Kameradschaft und zwischenmenschliche Reibereien, musikalische Erfolge und Misserfolge, Lob und Tadel von der oder über die Direktion, finanzieller Wohlstand oder Engpässe ziehen sich wie ein roter Faden durch die ganze Epoche. Beeinflusst wurden sie durch die Rahmenbedingungen, die den zeitlichen Entwicklungen unterworfen sind. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, mit ihr die Wirtschaft, das soziale Gefüge, die einzelnen Gemeinschaften und damit nicht zuletzt auch das einzelne Individuum.
Wie sieht nun die Zukunft aus?
Eine Prognose für die HARMONIE zu erstellen ist äusserst schwierig. Es stellt sich die Grundsatzfrage, ob ein Amateur-Blasmusikverein in der Agglomeration Zürich überhaupt noch Zukunft hat.
Es gibt einige ungünstige Trends:
Zum Beispiel entwickelt sich die Individualkultur stetig weiter, besonders bei den Jugendlichen. Vielerorts sind im heutigen Zeitalter von Internet und global village, In-Line-Skaten und Streetball fixe Vereinsstrukturen verpönt. Sie werden von vielen gleichgesetzt mit Vereinsmeierei, Traditionalismus und Konservatismus. Sie sind nicht flexibel genug für die Freiheit des Einzelnen und das damit verbundene Lustprinzip, nur so lange dabeizusein , wie es ihm oder ihr eben Spass macht.
Zudem heisst Vereinsleben auch immer zusätzliche Mehrarbeit und ein erhöhter Grad an persönlichem Engagement jedes Vorstandsmitglied wird mir dies sicher gerne bestätigen.
Auf der anderen Seite ist die Stilrichtung Blasmusik gefährdet. Zum einen hat sie den Hang, zur volkstümlichen Unterhaltung zu werden und somit als Nostalgieobjekt keine neuen Einflüsse mehr zuzulassen. Die Zuhörerschaft würde im schlimmsten Fall buchstäblich aussterben, denn die Jugendlichen der Agglomeration Zürich meines Wissens bevorzugen mehrheitlich andere Musikrichtungen.
Demgegenüber hat die Blasmusik aber auch einen sehr progressiven Trend, der sie jedoch zu elitär und abgehoben erscheinen lassen könnte und so einem breiteren, vielleicht eher traditionellvolkstümlich orientierten Publikum den Zugang verwehren würde. Eine breite Basis ginge damit verloren. Die Blasmusikfans würden dann im Endeffekt auf einer Stufe mit den Jazzfreaks oder Klassik-Anhängern stehen.
Zum guten Glück gibt es aber auch positive Entwicklungen:
Im Prinzip sind es die selben wie die oben genannten, einfach anders formuliert. Die Fähigkeit, als Verein ein soziales Netzwerk zu bieten, kann gerade bei immer stärkerer Individualisierung und sogar Isolierung des Einzelnen eine Chance sein. Vielleicht werden die Menschen wieder vermehrt die Gruppenerlebnisse und den sozialen Rückhalt einer festen Struktur suchen. Wir haben zum Beispiel immer wieder Mitglieder, welche aus beruflichen Gründen in die Region Zürich gezogen sind und hier bei uns einen zusätzlichen gesellschaftlichen Anschluss gefunden haben.
Auf keinen Fall vernachlässigen darf man zudem den positiven Einfluss eines kreativen Hobbies auf das psychische und physische Wohlbefinden, besonders in dieser stressigen Zeit. Mit dem gemeinsamen Musizieren und dem geselligen Umgang bietet sich ein Freiraum, um die Alltagssorgen wenigstens für einen kurzen Moment einmal hinter sich zu lassen.
Es bleibt die Frage, ob die Blasmusik an sich noch Zukunft hat. Ich denke ja. Künstlich erzeugte Klänge, die synthetische Musik, die ohne Elektrizität und Technik nicht mehr auskommen, bestimmen heute in vielen Bereichen die Szene. Sie vereinfachen einerseits den Zugang, selbst zu musizieren, andererseits Rationalisieren sie die Musikproduktion. Ein Computer kann mittlerweile ein ganzes Orchester ersetzen.
Dennoch denke ich, dass live und „unplugged" gespielte Musik, also solche ohne jede technische Hilfsmittel, die Zuhörer immer noch zu begeistern vermag. Auf diese Art wird sie direkt und unvermittelt übertragen, das Können und die Leistung des einzelnen Musikers, der einzelnen Musikerin werden erfahrbar. Es lassen sich Parallelen ziehen zu der nach wie vor beliebten klassischen Musik oder den berühmten „Unplugged"-Sessions auf MTV.
Ich glaube auch, dass beim Repertoire eine Lösung gefunden werden kann. Eine Blasmusikformation ist ein absolutes Allround-Orchester: Von Märschen über Walzer und Polkas, von barocker über klassische bis hin zu zeitgenössisch-konzertanter Musik, vom Schlagermedley über Filmmusik bis Jazz für sie ist fast alles spielbar.
In dieser Flexibilität sehe ich denn auch ihre grösste Chance. Ein gutes Korps kann sich auf die Erwartungen und Wünsche seiner jeweiligen Zuhörerschaft einstellen. Auf der anderen Seite haben die Mitglieder die Möglichkeit, verschiedenste Stilrichtungen selber zu praktizieren. Das Mitwirken bei einem Blasmusikverein wird in dieser Hinsicht nicht zu einem „Entweder-oder" sondern zu einem „Sowohl-als-auch". Es wird daher meines Erachtens weder an Publikum noch an MusikerInnen fehlen.
Es lässt sich für die Zukunft des Musikvereins HARMONIE Schlieren, gemessen an den äusseren Bedingungen, eine durchaus positive Prognose erstellen. Die inneren Verhältnisse geben ebenfalls Grund zu grossem Optimismus: Eine hochqualifizierte Direktion, gut ausgebildete und motivierte MusikerInnen, ein sehr jugendliches Korps und nicht zuletzt eine zeitgemäss organisierte und daher sehr flexible Vereinsstruktur. Dazu kommt eine gute Infrastruktur wie ein geräumiges Probelokal mit genügend Stauraum, eine beachtliche Ausrüstung mit Instrumenten und Uniformen. Darüber hinaus darf man nicht die ständige Unterstützung durch die Gönnervereinigung und die Stadt Schlieren vergessen.
Diese inneren Verhältnisse lassen denn auch die wahre Bedeutung von 75 Jahren HARMONIE ersichtlich werden: Es waren nicht die grossen Erfolge, die tollen Feste und die grandiosen Auftritte. Auf diese Lorbeeren kann sich heutzutage letzten Endes niemand mehr berufen.
Die allergrösste Leistung dieser Zeitspanne sehe ich in der Schaffung einer eigentlichen Kultur innerhalb und ausserhalb des Vereins. Diese Kultur, über Jahrzehnte von sehr vielen Leuten mit viel Fleiss und Liebe geformt, bedeutet das wahre Kapital der HARMONIE. Sie ist der Nährboden, durch den der MHS überhaupt erst erblühen konnte und kann.
Diese Vereinskultur gilt es zu pflegen und zwar sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Korps. Sie muss ständig überdacht, angepasst, weiterentwickelt und ausgebaut werden. Nur so ist ein Bestehen der HARMONIE auch in Zukunft noch möglich.
Die Grundvoraussetzungen dafür sind geschaffen und die HARMONIE kann mit viel Zuversicht nach vorne blicken!